Rotköpfchen und der müde Wolf oder: Ä Pladde muss noch reipasse

Autor
Christina Feuerstein / Christoph Molz
Datum
06.07.2012

(der 600er aus weiblicher(Christina) bzw. männlicher (Chris) Sicht)

BRM600 2012Christina:
Nein, das Jura liegt nicht wirklich am Meer und aus unserer Region heraus eine (Tor)tour ans Meer zu machen, scheint auch eher unwahrscheinlich. Aber dieses Mal hätte ich mich lieber am Meer befunden, die kühle Brise auf der schweißnassen Haut gespürt und wäre gerne dem unwiderstehlichem Drang erlegen, das Rad in den warmen, weichen Sand zu werfen, um kurze Zeit später in der tosenden und erfrischenden Brandung abzutauchen...
Vom letzten Jahr hatte ich noch das Bild von der großen und bunten Horde vor Augen, die sich quasi wie ein riesiges Meer von rollenden Wandergesellen zusammen auf den Weg machte, das Jura zu bezwingen. Diese Jahr, nach dem tragischen Unfall beim 300er und den entsprechenden Auflagen der zuständigen Behörden (Garten- und Tiefbauamt!) in Bezug auf Fahren in der Gruppe, Nutzung von Radwegen bzw. der Straße etc. (zudem war noch Pfingsten), war die Anzahl der Frühstückswilligen im „Augustiner“ zu einem vergleichsweise kleinen „Tümpel“ von Randonneuren zusammengeschrumpft.

Als leidgeprüfte Schicksalsgemeinschaft machten sich also mein Vereinskollege Chris und ich auf eigene Gefahr gegen 8 Uhr auf den Weg Richtung Frankreich. An Ampeln stießen wir zufällig auf weitere Radler, die wohl die gleiche Idee hatten wie wir...
Kurz vor Hartheim musste ich plötzlich daran denken, nachdem die Fortbewegung auf den angeblich sicheren Radwegen zur plötzlich viel größeren Gefahr wurde als die reine Straßenbenutzung, dass uns Hamburgern die frische Brise vom Meer in vielen Bereichen nur Vorteile bringt, insbesondere bei behördlichen Angelegenheiten. Hier im Süden bläst zwar hin und wieder mal der Höllentäler, aber als Konkurrenz zu einer ordentlich frischen Brise vom Meer, ist es ein schüchternes Lüftchen auf Kuschelkurs.
In solchen Momenten wie diesen wünschte ich mir, dass endlich eine kräftige, steife Brise durch die hiesige Behördenlandschaft weht, damit der eine oder andere Beamte endlich das tut wozu er eigentlich angestellt wurde: denken!

BRM600 2012Chris:
Wie üblich, sind Christina  und ich kurz nach sieben im Augustiner, zum gemeinsamen Frühstück mit anderen Randonneuren. Dieses Mal ist die Kneipe nur halb voll. Es ruft kein Paris-Brest-Paris, und vermutlich haben die vergangenen Vorfälle das Feld weiter ausgedünnt. Die Stimmung ist jedoch wie immer, ruhig und erwartungsvoll. Zu spüren ist eine allgemeine Verärgerung über behördliche Restriktionen, verbunden mit Solidaritätsbekundungen für Walter und Urban.
Man kann das durchaus allgemein fassen: die Politik tendiert momentan generell dazu, alles zu reglementieren und die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen immer mehr einzuschränken. Speziell für Randonneure eine absolute Katastrophe! Die Freiheiten, die in den 70ern erkämpft wurden, werden uns auf schleichendem bürokratischen Weg wieder genommen!
Die absolute Katastrophenmeldung: Leider fällt Big Penn für dieses Jahr aus: der Wirt hat einen Termin mit seiner Band: als Musiker für mich verständlich...Aber: lohnt sich dann der 600er überhaupt....

Porrentruy
Das Meer... Das war die große Sehnsucht schon kurz nach Überquerung der französischen Grenze und diese sollte den größten Teil der beiden Tagen anhalten.
Sonne und warme Temperaturen waren angekündigt, aber schon am frühen Morgen war es bereits so warm, dass meine Trinkflaschen bei jeder möglichen Gelegenheit nachgefüllt werden mussten.
Es fuhren immer wieder Einzelfahrer oder Gruppen von drei oder vier Leuten vorbei. Irgendwann formierte sich eine Gruppe zusammen, die  wir allerdings später wieder verlassen mussten: Meine Schaltung rebellierte. Ok, dachte ich... das fängt ja wieder gut an! Hoffentlich bleibt es bei dieser technisch bedingten Pause!  Letztes Jahr hatten Chris und ich von Anfang an eine Gruppe, mit der wir im Tempo eines entspannten Regionalexpresses nach Porrentruy rauschten. Ebenfalls letztes Jahr, als wir bei der ersten Kontrollstelle in Porrentruy angekommen waren, sah ich eigentlich nur Radfahrer draußen vor dem provisorischen Eingang des Coop-Marktes sitzen, um eine kurze Pause zu machen. Dieses Jahr war nicht nur der Eingangsbereich neu gestaltet worden, sondern auch die Anzahl der Radler auf eine Handvoll zusammengeschrumpft.
Wir verbrachten deshalb nur wenig Zeit mit der Verpflegung und fuhren weiter Richtung Doubstal. Einen Vorteil bei dem zweiten 600er stellte ich auch gleich fest: ich konnte mich viel mehr auf die Umgebung konzentrieren und letztlich auch die Fahrt besser und intensiver genießen. Zudem hatten wir Rückenwind und ich fühlte mich fit wie lange nicht mehr.

Um 8 Uhr fahren wir in Richtung französische Grenze. Das Wetter ist gut, und dem Wetterbericht nach soll es recht warm werden. Wir sind in einer kleineren Gruppe, und es rollt, bei Rückenwind, sehr gut, bis irgendwann bei Christina die Schaltung anfängt zu spinnen. Dadurch müssen wir anhalten und verlieren die Gruppe. Trotzdem sind wir etwas früher in Porrentruy als im letzten Jahr, dank des Rückenwindes. Mir ist klar, dass wir morgen auf dem Rückweg höchstwahrscheinlich Gegenwind haben werden.

Col de la vue des Alpes
BRM600 2012
Trotz Wärme war der Anstieg zum Col Montvoie entspannt und angenehm zu fahren, und oben angekommen wurden wir mit einer himmlischen Aussicht belohnt.
Die Abfahrt nach St. Hippolyte war zwar teilweise recht holprig und eine Tortur für Material und Fahrer, aber zugleich auch erfrischend und berauschend. So folgten wir dann dem  smaragdschimmernden Fluss Doubs, der so unverschämt verführerisch zum Baden einlud, dass ich mir fast wie Odysseus vorkam, nur mit dem Unterschied, dass ich ans Rad gekettet war und nicht an einen Bootsmast. Vielleicht sollte ich es später bereuen, dass ich der Einladung nicht gefolgt bin...
Den Anstieg nach Orgeans und somit zur Kontrollfrage hatte ich nicht mehr in Erinnerung, vermutlich ausgeblendet aufgrund der Tatsache, dass es ein gutes Stück Beinarbeit bedeutete. Den ganzen Weg nach Orgeans waren Chris und ich alleine unterwegs und hatten auch niemanden getroffen, aber am Brunnen angekommen standen plötzlich drei oder vier Gleichgesinnte zusammen, die sich augenscheinlich nur schwer von dem kühlen Nass trennen mochten. Einer von ihnen war Jochen, den wir vor Porrentruy aus den Augen verloren hatten. Unsere Schicksalsgemeinschaft hatte sich auf drei vergrößert und es sollte nicht so bleiben. Wir fuhren zusammen die Hügel unendliche Male hoch und wieder runter und  wunderten uns, dass immer mehr dazu kamen. Wir beschlossen daher, als eine passende Bank unter schattenspendenden Bäumen wie auf Zuruf unseren Weg kreuzte, dass wir uns eine Pause verdient hätten.  
BRM600 2012
Da tauchte Gerd auf. Ich habe ihn nicht erkannt, bzw. hatten ihn bis dato nur einmal gesehen. Jochen rief ihm zu und er gesellte sich ein paar Minuten zu uns. Er war etwas angeschlagen, die Wärme schien ihm etwas zuzusetzen und sein Magen rebellierte. Während wir noch etwas auf der sitzen Bank blieben, fuhr er weiter.
Wir rollten ein paar Minuten später weiter und kamen dem Anstieg nach La Chaux des Fonds immer näher. Plötzlich hörte ich einen mir -leider- vertrauten, lauten Knall, allerdings diesmal aus Chris Richtung: Er hatte einen Durchschlag und die Luft entwich in Sekundenschnelle. Zu dritt und mit etwas Improvisationstalent war auch diese Zwangspause schnell erledigt und sollte zum Glück auch die Letzte auf der Tour bleiben. Die Bäume spendeten immerhin erfrischenden Schatten und mir ging es trotz der hohen Temperaturen an dem Anstieg erstaunlich gut, bis auf die Schmerzen im Lendenwirbelbereich.  In einer Kurve trafen wir Gerd wieder. Er stand sichtlich erschöpft, aber dennoch weiterhin mit einem schelmischen Blick und ein paar markigen Sprüchen am Fahrbahnrand und machte eine Pause. Zu dem Zeitpunkt hatte ich mir immer noch keine weiteren Gedanken gemacht, da uns die Hitze allen zu schaffen machte, dem einen vermutlich mehr als dem anderen.
Wir rollten also weiter und genossen die Abfahrt nach La Chaux de Fonds. Jochen hatte die Idee, im Bahnhof noch etwas Proviant zu besorgen und ich musste feststellen, dass ich mittlerweile den Durchblick verloren hatte, in welchem Land wir uns eigentlich gerade befanden: Beim Bezahlen legte ich nämlich statt Franken Euros auf den Tresen... Waren das schon die ersten Anzeichen von hitzebedingter Verwirrung?
BRM600 2012Aber das war nichts im Vergleich dazu, was kurze Zeit später in der Vorhalle passieren sollte. Wir waren bereits in Aufbruchstimmung, da kam Gerd mit seinem Rad durch die   
Eingangstür hinein. Bleich, erschöpft und mit nasskaltem Schweiß auf der Stirn steuerte er nicht –wie vermutet- den nächstbesten Platz am Boden an, sondern schlenderte erst einmal genüsslich in den Supermarkt, um sich dann kurz darauf auf wackeligen Beinen auf den Boden „plumpsen“ zu lassen. Wir eilten zu ihm, um ihm zu helfen. Ihm ging es sichtlich schlecht und wir überlegten sofort, wie wir ihm helfen konnten. Schnell kamen auch andere Passanten hinzu, die Hilfe anboten, aber Gerd wiegelte ab. Wir gaben ihm zunächst einen wassergetränkten Buff, den er sich auf den Kopf legte. Chris vermutete einen Sonnenstich, bzw. einen Hitzeschlag. Gerd erzählte dann, dass er viel getrunken habe, aber sein Magen einfach nichts bei sich behalten wollte. Es wurde schlimmer... Gerd fing an, am ganzen Körper zu zittern, ein Zeichen, dass sein Körper mit aller Kraft versuchte gegenzuregulieren. Mir gefiel das immer weniger und ich dachte wirklich, dass er uns hier gleich kollabiert. Gerd wollte partout keine medizinische Hilfe in Anspruch nehmen und Jochen „flüsterte“ mir zu, dass Gerd niemals freiwillig nach Hause fahren würde, bzw. einen Arzt zulassen würde, solange er noch bei Bewusstsein ist. Andere Randonneure sprachen ebenfalls erfolglos mit ihm, fuhren dann aber weiter, weil sie ihn guten Händen sahen (und weiter wollten). Meine Sorge wich stetig weiter in den Hintergrund und machte Ungeduld und Gereiztheit Platz. Es brodelte, meine deutlichen - frauenspezifischen - Worte hatten Gerd vermutlich den Rest gegeben, aber das war mir egal. Immerhin ging es ihm kurze Zeit später wieder etwas besser, zumindest war das Zittern vorbei und das Leben kroch langsam wieder in seinen Körper zurück. Jochen, Chris und ich beschlossen daher weiter zu fahren, da jede weitere Diskussion an dieser Stelle keinen Sinn gemacht hätte und letztlich jeder Fahrer eben doch für sich selbst verantwortlich ist, solange er noch ansprechbar und einigermaßen bei Sinnen ist. Wir kamen am „Col de la Vue des Alpes“ an, leider ohne Alpensicht. Es war bereits etwas schattiger und kühler geworden, deswegen wollten wir unseren Aufenthalt nicht in die Länge ziehen und bald weiterfahren. Kurz vor dem Aufbruch ins Brevinetal tauchte plötzlich Gerd auf! Ich glaube, dass wir alle ziemlich überrascht gewesen sind, dass er den Anstieg kurz nach uns angetreten ist. Seine Gesichtsfarbe war zwar wieder etwas gesünder, aber er war immer noch sehr angeschlagen, zumal sein Magen weiterhin randalierte und er nichts zu sich nehmen, bzw. bei sich behalten konnte. Er fragte uns, ob wir auf ihn warten würden, was wir natürlich auch taten.

Es wird richtig warm, als wir uns von Porrentruy aus zum Col de Montvoie hocharbeiten. Allerdings ist dort ein dichter Baumbestand, was die Auffahrt erleichtert. BRM600 2012Danach geht’s bergab in Richtung Doubstal. Leider wird die Abfahrt nachhaltig getrübt durch quer verlaufende Betonerhöhungen, die wohl nur dazu da sind, uns Radfahrern den Spaß an der Abfahrt zu nehmen! Die nächsten 40km sind landschaftlich der reizvollste Teil des 600er: leicht bergab durch das Doubstal, und danach in sehr schöne Tal des Vesoubre. Alles bekannt, aber trotzdem immer wieder fantastisch. Den nächsten Teil der Strecke habe ich vom Vorjahr her nicht abgespeichert, erst beim Aufstieg Richtung La Chaux des Fonds kommt die Erinnerung zurück: hier war letztes Jahr das Radrennen. In Orgeans treffen wir auf Jochen. Auf der Weiterfahrt Richtung la Chaux de Fonds machen wir in Maiche eine Pause. Gerd kommt vorbeigefahren und gesellt sich zu uns; er ist auch etwas müde. Kurze Zeit später habe ich meinen ersten Platten auf einem Brevet! Und den Dritten in diesem Jahr; normalerweise habe ich sonst alle 2-3 Jahre Einen! (Es geht weiter: Drei Wochen später, auf der Ultrastrecke des Kirchzartener Mountainbike Marathons, habe ich zwei Platten!) Unsere Wasservorräte gehen langsam zur Neige, wir tanken nach an einem Brunnen, den ich noch vom Vorjahr in Erinnerung habe. Unterwegs überholen wir Gerd, der grad eine kurze Verschnaufpause macht. Ich denke nicht weiter darüber nach, wundere mich aber etwas, denn beim 300er schien er mir leitungsfähiger als ich. Vermutlich muss er, wie später auch Jochen, dem Flêche Allemagne  in der Vorwoche Tribut zollen. In Chaux de Fonds tanken wir am Bahnhof nach und machen eine kurze Pause. ​BRM600 2012 [Zum Verschieben anwählen und ziehen] ​Verwundert registriere ich, das die Kioske nur Schweizer Franken annehmen. Und das an einem Bahnhof! Jochen leiht mir 10 SF (die ich ihm heute noch schulde, aber wir sind übereingekommen, dass wir das irgendwann mal  vertrinken). Kurz nach uns kommt Gerd rein, er sieht müde aus. Nach dem Einkauf muss er sich dann plötzlich ablegen; er ist völlig fertig. Sein Zustand verschlechtert sich schnell derart, dass wir diskutieren, einen Arzt zu rufen: vermutlich hat er einen Hitzschlag oder Sonnenstich. Ich versuche, mit feuchtkalten Tüchern seine Körpertemperatur runterzubringen. Mahnende Worte diverser Frauen helfen nicht, Gerd will keinen Arzt. Nach einer Stunde geht es ihm besser. Wir fahren weiter. Die weiteren Entscheidungen muss er selbst treffen. Am Col de la Vue des Alpes ist eine weitere kurze Pause fällig. Kurz nach uns taucht Gerd auf; er hat sich erholt! Wir nehmen ihn mit.
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Champagnole
Die Abfahrt ins Tal fühlte sich an, als hätte jemand die Kühlschranktür aufgelassen und später zusätzlich auch noch eine Kühltruhe dazugestellt. Zum Glück fehlte dieses Jahr der Regen, aber der Temperaturunterschied im Vergleich zu wenigen Kilometern vorher, war enorm. Hinzu kam die Tatsache, dass es bereits dämmerte und dieses Tal auch für seine extremen Temperaturen bekannt ist. Sinnigerweise deutet ein Schild vor der Abfahrt in das Tal auch auf „das Sibirien der Schweiz“ hin...ja, passt halt!
Nach einer weiteren Pause, in der Gerd diesmal immerhin einen Banane essen konnte, machten wir uns an den Anstieg und stießen bald auf eine andere Gruppe.
Ohne Zwischenfälle erreichten wir Pontarlier, wo wir uns fast verfahren haben, nachdem das GPS von Jochen -wohl durch den vorangegangen Kälteschock- einen anderen Weg anzeigte. Der Weg nach Champagnole zog sich hin, die Müdigkeit wurde langsam etwas stärker, aber wir wollten so wenig Pausen machen wie nötig. Gerd hielt sich wacker, aber wir mussten regelmäßig nachschauen, dass wir ihn nicht verlieren. Bei der Abfahrt  nach Champagnole setzte er sich plötzlich an die Spitze und fuhr, laut singend, fast auf der Mittelspur die Serpentinen runter. Ich konnte kaum hinsehen, denn zweimal kamen uns Autos in den Kurven entgegen, die gefährlich dicht an die Mittellinie heranfuhren. ​BRM600 2012 [Zum Verschieben anwählen und ziehen] ​Ich war plötzlich wieder hellwach! „Hoffentlich sind wir bald da...“ war mein Gedanke, „...sonst passiert doch noch etwas“. An der Kontrollstelle fuhren wir dann auch noch vorbei und landeten in der Sackgasse. Wir brauchten dringend eine Pause! Das „Hotel“ war der ideale Boxenstopp. Die Wirtin sehr nett und bemüht, dass es uns allen gut geht. Gerd wurde auch immer redseliger. Nach einem „Mitternachtssnack“ (es gab zwei Variationen von Nudeln), überlegten wir ob wir nicht hier unsere kurzes Nachtlager aufbauen sollten und taten es dann auch. Es war warm und wir durften uns hinten in der Ecke „breit“ machen. Uns blieb nicht viel Zeit und nach knapp einer Stunde und einer Mischung aus Schlaf und Dösen, nahm mein Unterbewusstsein um kurz vor drei Uhr die Stimme der Wirtin wahr die sagte, dass in 10 Minuten der Laden geschlossen wird. Das war hart... Aber ich war erstaunlich fit nachdem ich alles verstaut hatte und zum Rad ging.

Erfreut nehmen wir ihn mit auf die Abfahrt Richtung „Sibirie de la Suisse“ (Brevinetal). Hier ist es etwas schwierig mit der Bekleidung, denn die Temperaturen wechseln ständig. Besonders der „Lac de Taillieres“ strahlt eine Kälte aus.  Es beginnt zu dunkeln. Auch hier zieht sich die Strecke lang hin: immer wieder Anstiege, Abfahrten: man wartet sehnsüchtig auf die Abfahrt nach Pontarlier. In Pontarlier ist die Wegfindung wieder etwas schwierig, aber Jochen navigiert uns schließlich sicher durch. Der Weg nach Champagnole ist wieder sehr lang und mental anstrengend. An der Abfahrt kurz vor dem Ort überholt mich Gerd, laut singend und haarscharf an der Mittellinie vorbei. Ich finds witzig, Christina regt sich eher auf. So sind die Frauen ;-))).
Die „Ersatzkneipe“ in Champagnole ist ok. Leider fehlt die Rockmusik und das abgedrehte Ambiente, aber dafür ist es ruhiger. Wir essen was und legen uns für eine Stunde ab.

​BRM600 2012 [Zum Verschieben anwählen und ziehen] ​
Gonsans
Am Anstieg nach Ornans verloren wir irgendwann Jochen und Gerd. Jochen musste noch eine Pause einlegen und Gerd war (immer noch) angeschlagen und müde.
Plötzlich schrumpfte unsere Schicksalsgemeinschaft wieder auf die Hälfte zusammen.
Der Tag brach langsam an und die ersten Vögel begleiteten uns mit ihrem frühen Weckruf. Die Monotonie machte aber auch uns immer mehr zu schaffen und wir mussten uns ebenfalls nach ein paar Kilometern für 10 Minuten in einem Bushäuschen ausruhen. Es ist aber immer wieder erstaunlich, dass wenige Minuten ausreichen, um wieder für eine gewisse Zeit einigermaßen fit zu sein. In Gonsans angekommen war ich doch etwas enttäuscht darüber, dass sich nur ein paar wenige Radgesellen vor oder in der Bäckerei aufhielten. Im Vergleich zum letzten Mal, wo wir sogar noch später dran waren, lief es dieses Jahr eher überschaubar ab. Wir holten uns ein paar von diesen unbeschreiblich köstlichen Delikatessen und legten uns nach dem kleinen Frühstück (ohne Kaffee, aber dafür mit einer Koffeintablette als Ersatz) an die Hauswand und dösten ein weiteres Mal für wenige Minuten in der Sonne, die mittlerweile schon recht kräftig strahlte.

Danach folgt das aus meiner Sicht schwierigste Stück des 600er: Es geht Richtung Gonsans, in hügeligem Gelände, mit einigen längeren Anstiegen und Abfahrten, bei Gegenwind. Hier verlieren wir auch Jochen und Gerd, die eine Pause einlegen müssen.  Vor allem die 36km von Salin les Bains bis Ornans sind sehr anstrengend; ich sehne mir Gonsans herbei, im Hinterkopf die Bäckerei mit den vielen Köstlichkeiten. Auch hier starke Temperaturschwankungen: in den Senken staut sich die Kälte. Christina scheint das besser wegzustecken. Jeder Kilometer erscheint unendlich lang. Und ich frage mich mal wieder, warum ich das mache. Diese Frage habe ich mir aber schon bei Ultratriathlons gestellt. Eine schlüssige Antwort hab ich bisher noch nicht gefunden, vermutlich gibt’s keine....Einige Kilometer vor Gonsans sehen wir zwei Mitfahrer, die wir immer wieder getroffen haben, schlafend auf dem Gehweg herumliegen. Leider denke ich nicht daran, ein Bild zu machen. Kurze Zeit später muss ich eine Pause einlegen. Wir finden eine Bushaltestelle. Der kurze Boxenstopp bringt mich wieder auf Trab: 10 Minuten lang Augen zu, das hab ich mittlerweile gelernt. (Im Triathlon wäre das völlig undenkbar....).In der Boulangerie stopfe ich mich voll mit den zahlreichen leckeren Süßigkeiten, die gut sichtbar hinter der Theke gut sichtbar liegen, während Christina sich nur ein Croissant reinschiebt. Mir geht’s wieder so gut, dass ich noch ein paar Bilder der Szene machen kann und Fragen der neugierigen, französischen Bevölkerung beantworte.

Vesoul
Wir fuhren weiter, quälten uns in der immer stärker werden Hitze die nicht enden wollenden Anstiege und Hügel rauf und freuten uns auf den Rückweg. Es konnte doch nicht mehr weit sein...oder??
Da waren sie dann wieder: Meine Kaugummihügel, die ich zum zweiten Mal erklimmen musste und als unendlich lang in Erinnerung behalten hatte. Vielleicht war das auch der Anfang einer innigen Hassliebe. Aber das Gehirn täuscht gerne etwas vor, insbesondere wenn Gegenwind einen ausbremst, wie es letztes Jahr der Fall gewesen ist. Chris stellte nämlich entzückt fest, dass wir diesmal Rückenwind haben.
Ich zählte die Hügel mit, um der Eintönigkeit und der Anstrengung etwas entgegenzusetzen und kam auf 5. Ich schätze, dass ich die Anzahl nächstes Jahr auf seine Richtigkeit überprüfen muss...
In Vesoul wurde es dann plötzlich etwas stressig, die Wegbeschreibung führte uns in die Irre und ich hatte einen anderen Weg in Erinnerung, den ich aber so nicht mehr finden konnte. Wir irrten noch etwas durch die Gegend, bis wir auf die Gruppe trafen, die uns bei den Kaugummihügeln überholt hatte. Anscheinend ebenso planlos wie wir, waren sie in eine Diskussion mit einem radfahrenden Einheimischen vertieft, der sich schließlich anbot, uns den Weg zur Feuerwehr zu zeigen. Quasi ein persönlicher Escortservice...Wahnsinn!
Es war wirklich heiß, insbesondere in dem Aufenthaltsraum, wo ich letztes Jahr noch für eine Weile die Augen zugemacht habe. Dieses Jahr war der Aufenthalt wesentlich kürzer. Wir lagen gut in der Zeit und Chris und mir erging es erstaunlich gut, trotz Hitze und dem wenigen Schlaf. Aber vermutlich reichen wirklich nur kurze Pausen, in denen man für ein paar Minuten wegdämmert, ohne wirklich zu schlafen. Ich war fasziniert!

Danach geht es mir wieder besser; jetzt hat Christina mentale Probleme. Ich erkläre ihr, dass wir alle 15km eine Pause einlegen werden. Natürlich, versuche ich, daraus 20km zu machen, was aber nicht immer funktioniert. Aber sie hängt sich einfach hintendran. Wir hangeln uns sozusagen von Brunnen zu Brunnen, mit Ziel Vesoul. An den „Kaugummihügeln“ herrscht Rückenwind, was die Sache erheblich erleichtert. In Vesoul irren wir herum, bis wir auf eine andere Gruppe treffen, denen ein Einheimischer den Weg zeigt. Den direkten Rückweg aus Vesoul lasse ich mir von einem Feuerwehrmann erklären.

Bremgarten

Die nächsten 80 km spulten wir irgendwie herunter, mit kurzen Pausen dazwischen, inklusive Wasser tanken an Friedhöfen. Die letzten Anstiege brachten wir auch besser als gedacht hinter uns, wenngleich schon etwas langsamer. Autos und Motorräder rauschten an uns vorbei, teilweise sehr dicht. Wo kamen die denn plötzlich alle her?? Ein tolles Gefühl war das wirklich nicht, zumal die Müdigkeit immer mal wieder die Oberhand gewinnen wollte. Die 30 km vor der Grenze zogen sich dann wieder wie Kaugummi hin, der höllische Gegenwind war unser erklärter Feind und mir graute es vor der Rubbelpiste bei Fessenheim. Sowieso fragte ich mich immer wieder, wofür die Franzosen eigentlich die Gelder ausgeben. Für Straßenbau und -erneuerungen definitiv nicht! Seit Kilometer 500 tat mir auch der Hintern wieder ordentlich weh und deshalb musste ich einen großen Teil dieser „Folterstrecke für Randonneure“ im Wiegetritt fahren.
Es fing an zu dämmern als wir endlich im Bremgarten ankamen. Weit und breit war keiner von unseren Schicksalsgenossen zu sehen. Die meisten hockten vermutlich bereits zuhause auf dem Sofa... Ich mochte nicht daran denken, dass wir noch eine Stunde vor uns hatten! Da kam Chris mit zwei Schnitzelbrötchen aus der Tankstelle. Niemals hätte ich gedacht, dass so ein Snack, den ich sonst niemals esse, eine so positive Wirkung auf die Psyche haben kann! Ok, die Geschmacksnerven sind nach so einer Tour meiner Meinung nach schon sehr empfindsam und jede kleine Nuance wird dann noch deutlicher hervorgehoben.

Wir sind auf dem Weg in heimatliche Regionen: in der Ferne werden die Vogesen sichtbar. Der Weg von Michelbach bis nach Cernay ist nochmal sehr anstrengend: man wartet permanent auf die Abfahrt ins Rheintal, die nicht kommen will. In Ensisheim bin ich dann ziemlich genervt, und meckere über den permanenten Gegenwind. Da sagt doch Christina: „soll ich mal vorausfahren“? Es ist schon erstaunlich, wie fit sie ist, nachdem sie eine Woche vorher bei einer 170km-Tour im Schwarzwald aufgeben wollte!  Ich nehme dankend an, und so fährt sie bis Hirtzfelden, und auch einen Teil der widerlichen Rumpelstrecke nach Fessenheim, die dem ohnehin schon lädierten Hintern den Rest gibt, vorneweg. Vermutlich riecht sie schon das Andechser im Augustiner: ich hab mal gelesen, dass Frauen einen besseren Geruchssinn haben ;-).

Augustiner, Andechser und Geburtstag
Gestärkt und mit ausreichend Licht (langsam wurde es bereits dunkel) machten wir uns also auf die letzten Kilometer Richtung Freiburg und somit auch einem köstlichen Colaweizen entgegen. Dennoch zogen sich die knapp 25 Kilometer wie ein weichgewordener Riegel auf einem erhitzten Oberrohr. Punkt 22 Uhr waren wir dann endlich am Ziel und die illustre Runde, die sich vermutlich beim x-ten Bier und dem x-ten Snack schon seit Stunden im Außenbereich des Augustiners aufhielt, begrüßte uns mit lautem Klatschen und überschwänglichen Glückwünschen. Hatte ich etwas verpasst??? Natürlich habe ich mich sehr gefreut über diese Begrüßung und war gleichzeitig auch etwas verlegen. Erst im Nachhinein, als wir uns bei einem erfrischenden Kaltgetränk und einem exzellenten Flammkuchen „Schwarzwälder Art“ wieder langsam akklimatisiert hatten, wurde uns bewusst, was dieser 600er doch für einen nachhaltigen Eindruck bei den meisten hinterlassen hat. Es war die Rede von einem der „härtesten“ 600er... Ich persönlich fand es letztes Jahr anstrengender, kann aber die extreme Hitze und deren Auswirkungen auf so manchen Randonneur durchaus nachvollziehen. Auch Abbrüche wurden diskutiert.
Kurz vor Schluss kamen dann endlich auch Gerd und Jochen um die Ecke gerollt, sichtlich erleichtert und gut drauf. Meine Sorgen waren also unbegründet. Ganz im Gegenteil: Wie sich herausstellte, hatten beide noch einen schönen Abstecher zum und in den Badesee unternommen und Gerd war ob der Abkühlung plötzlich wieder fit wie ein abgelatschter Turnschuh...unglaublich! Aber das Gefühl kenne ich nur zu gut.

Obwohl ich mich jedes Mal nach einigen hundert Kilometern immer wieder frage, warum ich das eigentlich mache, so vergesse ich sofort alle Anstrengungen, wenn ich endlich wieder in Freiburg angekommen bin, ein wohlverdientes Colaweizen in den Händen halte und mit den anderen, geprüften Langstrecklern persönliche Erlebnisse und Erfahrungen austauschen kann. Für mich gibt es in diesem Moment nichts Schöneres. Es ist halt doch eine große, bunte Familie von radverrückten Vagabunden, die letzten ihrer Art...

Erneut vielen Dank an die Organisatoren, Walther und Urban, sowie dem Augustiner-Team für die lockeren, aufmunternden Worte am Morgen (und dem tollen Service beim Frühstück), sowie der persönlichen Begrüßung und „neckischen“ Sprüche am Abend. Für mich untrennbar verbunden und undenkbar, dass es jemals anders sein könnte.
Eine durchaus unübliche Art seinen Geburtstag zu verbringen, aber es war es wert!


Am Rasthof bei Bremgarten, den ich inzwischen zur Genüge kenne, schieben wir uns zwei Wecken mit Schnitzel rein, bevor wir gestärkt den Rest der Strecke unter die Räder nehmen. Natürlich verfahren wir uns wieder, zum X-ten Mal in Hartheim („Einheimische brauchen keinen Streckenplan“) und nehmen dadurch 3 km mehr in Kauf, aber da kommt es jetzt auch nicht mehr drauf an.
Im Augustiner angekommen, werden wir mit Beifall empfangen: auch andere Mitfahrer haben dieses Wochenende als besonders anstrengend empfunden. War es die ungewohnte Wärme, oder doch nur die bekannte Strecke, die man abspult? Gespannt warten wir, wer noch kommt. Urban ist überzeugt, dass die hinter uns liegenden Jochen, Gerd und auch Reiner, alles erfahrene Randonneure, durchkommen werden. Der Spruch des Brevets von Urban: „ä Pladde muss noch reipasse“....Er behält recht: bei Jochen und Gerd hat sogar noch ein Bad im See reingepasst! Naja; mit einem Platten zusätzlich wärs vielleicht eng geworden.
Resümee: Ich bin diese Strecke jetzt zum dritten Mal gefahren, aber man entdeckt immer wieder neue Passagen, die man nicht abgespeichert hatte. Das ist schon faszinierend.
Leider ist die Serie jetzt zu Ende. Mal sehen, vielleicht finde ich noch die eine oder andere interessante Langstrecke, sonst muss ich ja wieder Triathlon machen...
Herzlichen Dank an Urban und Walter für die Organisation der Veranstaltungen, verbunden mit dem Wunsch, dass die beiden sich von behördlichen Auflagen nicht beeindrucken lassen und einen Weg finden, weiterzumachen.

Bis 2013!

Christina und Chris

Fazit: Wieder mal hat die Frau mehr zu erzählen als der Mann.........