Unter der Haube

Autor
Christoph Molz
Datum
30.04.2012

Als ich am morgen um 7 Uhr im Augustiner ankomme, ist die Kneipe nur halb voll. Nicht ganz unerwartet: In den letzten Tagen war richtig schlechtes Wetter angekündigt: Regen und Kälte. Ich bin zum ersten Male ohne weibliche Begleitung auf einem Brevet: Christina ist krank. Dafür fährt Werner mit, der bei mir übernachtet hat. Ist das wirklich ein guter Ersatz? Wer textet mich jetzt zu? Naja, immerhin gibt er besseren Windschatten....
Nachdem Walter noch ein paar Sprüche über den „harten Kern der Szene, der heute hier ist“ und „wahre Randonneure“ losgelassen hat, steigen wir auf die Räder. Die Stimmung ist gut. Es ist unerwarteterweise trocken; zeitweise lugt sogar die Sonne hinter den Wolken hervor.
BRM300 2012Gleich bei der ersten Steigung im Münstertal zieht sich alles auseinander. Trotz der geringen Teilnehmerzahl  finden ich und Werner immer wieder einige Mitfahrer, so dass wir immer in einer, wenn auch kleinen, Gruppe sind. Ich spekuliere: wenn ich bis ca. km 100 trocken bleibe, dann werde ich wohl auch durchfahren. Die Wolken werden Richtung Schweiz immer dunkler, aber es regnet auch nach 100km immer noch nicht. Allerdings ist es recht kalt, so dass ich meine Regenjacke anbehalte. Direkt vor dem Aufstieg zum Schweizer Belchen („Bölchen“), ziehe ich sie dann aber doch aus, und mache noch einige Landschaftsbilder. Die Steigung ist moderat, so dass mir die angegebenen 15% doch deutlich übertrieben scheinen. Am Belchenhaus halte ich kurz an und überlege, ob ich Spaghetti essen soll oder gleich weiterfahre. Werner entscheidet sich für die Nudeln, und ich schließe mich ihm an. Wie sich später zeigen wird, eine richtige Entscheidung, denn ich komme relativ gut durch den Brevet. Wir schaufeln uns die Spaghetti rein und ich trinke noch eine Cola (sauteuer) dazu. Dann geht’s nochmal hoch bis zum Pass, und hier wird’s dann so steil, dass ich die 15% glaube. Die Abfahrt danach ist klasse, aber gegen Ende fängt es an, leicht zu regnen. Nach einigen Minuten entscheide ich mich dafür, mein gesamtes Reportoire an Regenklamotten auszupacken.
Eine Zeit lang geht es im Nieselregen weiter, dann, bei ca. km 150, regnet es sich ein. Werner habe ich inzwischen verloren, dafür bin ich mit einem anderen Randonneur unterwegs. Es geht zum nächsten langen Anstieg, und dann bergab nach „Souvez“? Hier ist ein Kontrollpunkt an einer „Tankstelle“ in der Ortsmitte. Ich fahre durch, ohne eine Tankstelle zu sehen. Am Ortsende halte ich irritiert an; und mir fällt ein, was Urban am Morgen gesagt hatte: da kann man leicht vorbeifahren. Verärgert über mich fahre ich zurück und entdecke jetzt erst das Tankstellenschild an einem Bauernhof. Der sehr freundliche Bauer (wo die beiden den aufgetrieben haben?) stempelt, dann esse ich noch was, und es geht weiter bergab. Irgendwann ist auch er weg, und kurze Zeit später fährt Urban mit einigen Freunden auf mich auf. Ich beschließe mich dranzuhängen, was nur im Windschatten geht; denn sie sind etwas fitter als ich.  BRM300 2012So lerne ich auch „Stutz“ aus Oberried kennen, der eine Haube auf dem Kopf hat, die mich doch stark an die Haube erinnert, die früher meine Mutter aufhatte, nachdem sie Lockenwickler ins nasse Haar gesteckt hatte..... Die Kommentare der Mitfahrer sind entsprechend. Irgendwann fängt sich einer einen Platten ein. Durch den Regen und die Kälte dauert der Wechsel geschätzt eine Stunde (naja, vermutlich nur ein viertel Stunde), gewürzt von Kommentaren der trotz allem gut gelaunten Mitfahrer. BRM300 2012Danach wird’s richtig krass: wir fahren eine längere flache Abfahrt hinunter, mit Tempo um vierzig. Der Regen spritz gegen meine Brille, dazu das Wasser von den Hinterrädern des voranfahrenden. Abreißen lassen gilt nicht, denn ich will ja so schnell wie möglich nach Hause. Teilweise geht’s durch matschige Pfützen: der Dreck spritzt mir in die Augen, und knirscht zwischen den Zähnen. Die Hände werden kalt, und in den Schuhen steht das Wasser. Die Goretex-Socken bestehen ihre erste Prüfung mit Bravour: das Wasser läuft oben rein und unten nicht mehr raus....Inzwischen freue ich mich über jede Steigung, denn da werde ich wieder warm. Deshalb bedaure ich es fast, als Urban die letzte Steigung ankündigt. Leider ist das Terrain auf den letzten 80km flach. Inzwischen ist meine linke Hand so kalt und gefühllos, dass ich es nicht mehr schaffe, zu schalten. Mit rechts übergreifen geht es irgendwie auch...
Im Elsaß hat dann Urban einen Platten. Ich habe zwei Schläuche in der Satteltasche, schaffe es aber aufgrund der fast völlig abgefrorenen Finger nicht, sie rauszuziehen. Ein anderer Mitfahrer hat noch einen parat. Wieder dieselbe Prozedur. Mit kalten Fingern Schlauchwechsel. Diesmal fehlen die unterhaltsamen dummen Sprüche: alle wollen endlich nach Hause. So viel Platten auf einer Tour habe ich noch nicht erlebt, denn in Freiburg hat ein dritter Fahrer eine Reifenpanne. Ich sinniere: was tun, wenn ein irreparabler Defekt passiert? Hier ist weit und breit kein Dorf zu sehen. Wir erreichen die letzte Kontrollstelle kurz nach dem Rhein, und ich bin total durchgefroren. Wir wärmen uns in der Tankstelle kurz auf. Stutz trinkt ein Bier, was mir sicher auch guttun würde, aber ich habe Bedenken, danach nicht mehr aufs Rad zu kommen. Er bietet mir einen Schluck an, was ich dankbar annehme. Beim Aufsteigen aufs Rad zittern die Arme so stark, dass ich fast vom Rad falle. Aber die Nähe zu Freiburg motiviert mich nochmal, und irgendwann geht’s dann halt doch wieder. Außerdem funktioniert meine Vorderlampe nicht mehr, und auch die Ersatzlampe spinnt! Ich bin also auf den Schutz der Gruppe angewiesen. In Freiburg habe ich dann noch einen kleinen Sturz: ein Autofahrer hat sich zwischen mich und die anderen geschoben. Als er an einer Ampel stehen bleibt und ich auf dem Gehsteig fahren will zum überholen, rutsche ich weg und stürze. Passiert ist allerdings fast nichts, und die kleinen Hautabschürfungen tun erst später beim Duschen weh.
Im Augustiner empfängt mich Wirt Bodo mit den Worten: „Bei uns wars den ganzen Tag trocken; ich weiss ja nicht, wo ihr euch rumgetrieben habt.“ Vielleicht hätten wir doch einige Runden um Freiburg herum fahren sollen; die vielen Höhenmeter hätten wir auch hier locker zusammenbekommen: Schauinsland, Kandel, Feldberg, Belchen...
Ich fahre gleich heim zum Aufwärmen. Dort verweile ich mindestens 20 Minuten unter der heissen Dusche, und schaffe es danach nicht mehr ins Augustiner. Kurz nach 12 kommt Werner, ebenfalls ziemlich fertig, aber auch er hat es geschafft! Er erzählt von einer Umleitung wg. eines Unfalls bei Hartheim.  Werner fährt auch noch mit seinem Kumpel kurz danach heim nach Karlsruhe.
Fazit: für mich absolut grenzwertig, aber schon einen Tag später verklärt sich der Blick, und man ist stolz, durchgekommen zu sein. Nachträglich mein Dank an die Anderen, die mich mitgezogen  und immer für gute Stimmung in der Gruppe gesorgt haben.

Am nächsten Morgen ruft Andi bei mir an, ein Vereinskollege. Ich bin verwundert, denn Andi hat noch nie bei mir angerufen. Sein erster Kommentar: Jetzt bin ich doch erleichtert, deine Stimme zu hören: ein 55-jähriger Radfahrer ist gestern bei Hartheim von einem Auto überfahren worden. Da hat alles gepasst: das Alter, die Uhrzeit und die Strecke. Schau mal unter „Badische  Zeitung online“.
Schockiert schaue  ich im Internet.  Kurt muss kurze Zeit nach uns durchgekommen sein. Ich habe ihn nicht gekannt, bin aber genauso erschüttert wie alle anderen Randonneure. Letztendlich sind wir ja eine Familie.
Einige Tage später fahre ich mit Christina an die Unfallstelle; sie ist direkt bei einem Christuskreuz! Nur eine Kerze und ein paar Blumen sowie etwas Farbspray weisen auf den Ort hin.
Sollten wir dort ein Kreuz aufstellen als Mahnmal an alle Verkehrsteilnehmer?

Chris